Müller-Seidel, Walter – Riedel, Wolfgang (Hgg.):

Die Weimarer Klassik und ihre Geheimbünde

Königshausen & Neumann, Würzburg, 2002.

 

 

 

 

Seit den Arbeiten des amerikanischen Historikers W. Daniel Wilson "Geheimräte gegen Geheimbünde" (1991), "Das Goethe-Tabu" und "Unterirdische Gänge" (beide 1999) sowie dem 1996 veröffentlichten Buch des Berliner Germanisten Hans-Jürgen Schings "Die Brüder des Marquis Posa" hat sich um die Verbindungen der so genannten Weimarer Klassiker zu den Geheimbünden des ausgehenden 18. Jahrhunderts eine veritable Forschungsdiskussion entwickelt, an die nun der von Walter Müller-Seidel und Wolfgang Riedel herausgegebene Band "Die Weimarer Klassik und ihre Geheimbünde" anschließt.

Als historisch-literaturwissenschaftliches Gemeinschaftsprojekt konzipiert, ist er aus Vorträgen hervorgegangen, die zwischen 1998 und 1999 vor der Münchener Goethe-Gesellschaft gehalten wurden. Auch wenn dies sein Titel eher verschleiert: im Zentrum des Buches stehen nicht die Geheimbünde im Allgemeinen, sondern vor allem die llluminaten, ihr Gründer Adam Weishaupt, Johann Wolfgang Goethe, Schillers Karlsschullehrer Jakob Friedrich Abel sowie Adolph Freiherr von Knigge. Thematisch knüpft der Band damit an die Forschungen Wilsons an, der das Bündnis von 'Klassikern' und Illuminaten als ein äußerst dunkles Kapitel der Weimarer Geschichte umschrieb, in der Bespitzelungstechniken und gezielte Diffamierungsstrategien gegen die Modernisierer (das heißt bei Wilson gegen die Illuminaten) eingesetzt worden sein sollen.

Auf Wilson nehmen zahlreiche Artikel dementsprechend explizit Bezug. So wendet sich der Historiker Eberhard Weis gegen die Einschätzung der Illuminaten als fortschrittlichen, ja demokratischen Geheimbund. Er plädiert für eine unabhängige, differenzierte Bewertung einzelner Zirkel und warnt dabei vor einer Überschätzung ihrer historisch-politischen Relevanz. Gleichermaßen gegen Wilson argumentieren die Germanisten Hartmut Reinhardt und Hans-Jürgen Schings. Letzterer versucht Goethe vom Bespitzelungsvorwurf zu entlasten, indem er dessen Roman 'Wilhelm Meister' als literarisches Zeugnis einer durchaus "konzilianten" (195) Bewertung der illuminatischen Pädagogik und Anthropologie begreift. Der Roman verdamme die Schriften der Illuminaten nicht, sondern entwerfe mit der Turmgesellschaft ein positives Gegenprogramm, das – im Unterschied zur historischen Vorlage - nicht auf Instrumentalisierung ziele, sondern durch eine "hermeneutisch-mäeutische Vernunft" (200) Bildung befördere und als Selbstzweck begreife. Damit soll zum einen die Haltung des "großen Schweigers" zum Geheimbund illustriert und zum anderen auf den historischen Kontext aufmerksam gemacht werden, aus dem die zentrale, autonomieästhetische Kategorie 'Bildung' hervorgegangen sei.

Neben den Korrekturen an Wilson stellt das Verhältnis von 'Aufklärung' – als Modernisierungskategorie - und den Geheimbünden einen weiteren Schwerpunkt des vorliegenden Bandes dar. Walter Müller-Seidel sieht besonders in den Texten Schillers eine 'Dialektik der Aufklärung' reflektiert, die sich als Umschlag von "reinsten Zwecken" in den "Geist der Heimlichkeit und der Herrschaft" (Schiller) darstelle. Am prägnantesten manifestiere sich dieses Spannungsverhältnis in den 'Briefen über Don Carlos' und in der Dramenfigur 'Marquis Posa'. Seit geraumer Zeit wurden emphatische Posa-Deutungen, die in der Figur den Republikaner par excellence sahen, immer wieder durch Verweise auf die 'Briefe' herabgestimmt, in denen Posas rigoroser Herrschaftswillen und sein scheinbar unstillbares Machtverlangen kritisiert wurden. Die negativen Deutungen erhielten neuen Auftrieb, als das historische Vorbild des Despotismus Posas identifiziert werden konnte: Adam Weishaupt und der Bund der Illuminaten sollen bei der Konzeption des Maltesers Pate gestanden haben. Während Dieter Borchmeyer die kritischen Deutungen zu relativieren versucht, indem er zwischen dem Drama und den späteren Briefen auch nach formalästhetischen Gesichtspunkten unterscheidet, versteht Wolfgang Riedel die Spannung zwischen "reinsten Zwecken" sowie dem "Geiste der Heimlichkeit und der Herrschaft" nicht als Sonderproblem der Illuminaten, sondern als ein konstitutives Problem von 'Aufklärung' überhaupt. Dass Aufklärung (nach Riedel mit Kant der Mut zum Selbstdenken) ihrem eigenen Postulat zwangsläufig zuwiderlaufe, insofern sie nämlich vermittelt werden müsse, ist jedoch eine Annahme, die weder das Kant'sche Verständnis noch die von Schiller aufgegriffene Problematik wiedergibt. Sie scheint an dieser Stelle auch nicht geeignet, die Wissensvermittlung beziehungsweise interne Dynamik der Geheimbünde zu beschreiben. Die Anerkennung und Vermittlung von tradiertem Wissen steht jedenfalls nicht grundsätzlich im Widerspruch zum Postulat des Selbstdenkens. Im Gegenteil: die Ablehnung dieses Wissens entspricht vielmehr einer hyperskeptischen Haltung und ist keine Konsequenz einer aufgeklärten Pädagogik, wie Riedel zu suggerieren scheint.

Fruchtbarer als die Problematisierung des illuminatischen Subordinationsprinzips vor dem Hintergrund eines tendenziell unhistorischen Aufklärungsbegriffs wäre hier die Rekonstruktion jener zeitgenössischen, moralphilosophischen Diskussion, auf deren Basis das illuminatische System installiert werden sollte. Eine derartige Analyse würde möglicherweise ergeben, dass die Kritik an der Ordensstruktur als willkürlich und despotisch ein von Zeitgenossen formulierter Vorbehalt ist, der auf frappierende Weise an die polemische Rezeption des jesuitischen Probabilismus erinnert.

Dass der Gründer der Illuminaten Adam Weishaupt zweifelsohne auf dem Höhepunkt der moralphilosophischen Diskussion der Zeit war, dokumentiert denn auch der Beitrag des Münchener Historikers Martin Mulsow, der wohl zu den pointenreichsten des gesamten Bandes zählt. Er stellt sich gegen die geläufige Geringschätzung der Weishaupt'schen Philosophie sowie gegen deren Etikettierung als 'materialistisch' (Hermann Schüttler). Dabei kann Mulsow zeigen, inwiefern interne Ordensangelegenheiten - zum Beispiel die Ausarbeitung der Mysteriengrade - von exoterischen, religionshistorischen Fragestellungen überlagert wurden und sogar bei der Besetzung der Jenaer Philosophieprofessur ins Gewicht fielen. Auch wenn Mulsows Annahme, der Göttinger Popularphilosoph Johann Georg Feder habe die Entwicklung des Ordens wesentlich beeinflusst und sei langjähriger Mentor Weishaupts gewesen, auf eher schwachen Quellenbefunden basiert, überzeugt vor allem seine Kontextualisierung der Mysteriendiskussion. Mulsow verweist dabei unter anderem auf die Schriften des in diesem Zusammenhang eher marginal behandelten französischen Gelehrten Nicolas-Antoine Boulanger (1722–1759), der durch seine Abhandlungen zum antiken Despotismus bekannt war und den Artikel 'Sintflut' in der 'Encyclopédie' verfasst hatte. Boulanger erklärte darin die Entstehung der Religionen aus dem Sintflut-Trauma und legte somit eine Theorie vor, von der Weishaupts Mysterienverständnis maßgeblich bestimmt war. Auf Boulanger greift der Illuminat bei der Ausarbeitung des Docetengrades zurück, was seinen Zeitgenossen wegen der damit verbundenen Unsterblichkeitsauffassung Unbehagen verursacht haben dürfte.

Fazit: Der Band ergänzt die Forschungsdiskussion zur Rolle der Geheimbünde im ausgehenden 18. Jahrhundert um einige weitere Details. Er setzt sich aus historischer und germanistischer Perspektive nochmals kritisch mit den von Wilson skizzierten Interpretationslinien auseinander. Dabei treten jedoch die Grenzen der interdisziplinären Betrachtung zu Tage. So fehlen in den germanistischen Beiträgen oftmals Hinweise auf aktuelle Forschungen zur Sozial- und Kommunikationsstruktur der Illuminaten sowie zu ihren politischen Praktiken. Die historischen Beiträge zeichnen sich dagegen, insofern sie sich mit dem philosophischen Gehalt illuminatischer Texte befassen, zuweilen durch traditionelle ideengeschichtliche Verfahren aus, die auf breite, nicht selektierende Kontextualisierungen verzichten.

 

Yvonne Wübben

(Forrás: www.sehepunkte.de)