Mesenhöller, Mathias: 

Ständische Modernisierung. Der kurländische Ritterschaftsadel 1760–1830

Akademie Verlag, Berlin, 2009.

 

 

 

 

Das Historische Staatsarchiv Lettlands und die Lettische Nationalbibliothek in Riga bieten einen reichen Fundus für die historische Forschung, der insbesondere im Bereich der Frühen Neuzeit noch vielfach ungenutzt ist. Das Herzogtum Kurland, dessen Quellen dort unter anderem überliefert sind, stellt dabei einen interessanten Beispielfall frühneuzeitlicher Staatswerdung und Modernisierung dar. Seine analytische Erforschung hat vor allem der Mainzer Historiker Erwin Oberländer in den vergangenen Jahren mehrfach angeregt. [1] Kurlands frühe Politik der Neutralität [2] und des Merkantilismus sowie seine zugleich ungewöhnlich lange politisch eigenständige Ritterschaft markieren bemerkenswerte Punkte in der historischen Spannbreite des Herzogtums, das seit 1561 als quasi souveräner Staat unter polnischer Lehenshoheit existierte. 1795 wurde es, zunächst unter Wahrung einer gewissen Eigenständigkeit, zur russischen Provinz. Der Verdienst von Mathias Mesenhöllers Studie, die als Dissertation in Halle-Wittenberg bei Michael G. Müller entstand, ist es, Kurland als Beispielfall einer gesamteuropäischen Entwicklung, nämlich der ständischen Modernisierung, und somit des Elitenwandels, zu untersuchen. Er schreibt keine Landesgeschichte um des regionalen Interesses willen, sondern beleuchtet eine allgemeine Entwicklung aus der regionalen Perspektive neu. Er tut dies ausdrücklich „essayistisch“ (S. 32), ein für eine Dissertation mutiger Ansatz, den man aber als durchaus gelungen bezeichnen kann, denn es fehlt der Arbeit dabei weder an methodischer Reflexion noch an theoretischer Tiefenschärfe.

Mesenhöller verfolgt gemäß seinem Ansatz weniger eine These, sondern skizziert facettenreich den Wandel einer Elite auf dem Weg in eine neue Zeit. Er kann zeigen, dass es der kurländischen Ritterschaft, einer sehr speziellen Form von ständischer Repräsentation, grundsätzlich gelang, ihre Elitenfunktion in sich radikal wandelnden Herrschaftsverhältnissen und Zeiten des gesellschaftlichen und ökonomischen Umbruchs zu behaupten. Die damit unter Beweis gestellte grundsätzliche Wandlungsfähigkeit analysiert Mesenhöller in ihren verschiedenen Aspekten, wobei sich ein sehr vielschichtiges Bild ergibt. Die Beziehungsstrukturen waren die zwischen der Ritterschaft und dem Herzog bzw. später der russischen Krone und ihren Repräsentanten, zwischen der Ritterschaft und ihren Leibeigenen sowie zwischen der Ritterschaft und der übrigen – alles andere als homogenen – Gesellschaft. Zu diesem Beziehungsgeflecht kamen diverse weitere Verbindungslinien hinzu, wobei die kurländischen Strukturen in jeder Phase transnational waren und sich zudem nie auf einfache Schemata reduzieren lassen. Der Leser muss sich also auf spezifisch eigene historische Konstellationen einlassen, die zudem starkem Wandel unterlagen. Der Vergleich mit dem Elitenwandel in anderen Regionen ist dadurch zweifellos nicht einfach. Mesenhöllers erzählender Ansatz erweist sich hier als besonders wertvoll, denn es gelingt ihm, von der Situation der kurländischen Ritterschaft und ihrer Entwicklung ein anschauliches Bild zu zeichnen. Es ist unterteilt in die grundsätzlichen Strukturen des Herzogtums, in die „Agonie des Ancien Régime“ in der späten Herzogs- und der frühen Zarenzeit und in die „Imperialisierung“ unter russischer Herrschaft seit dem 19. Jahrhundert. Leider sind die Themenbereiche nur sehr schlagwortartig gegliedert, was zwar der Übersichtlichkeit zugute kommt, manchen Leser aber etwas ratlos lassen dürfte, was er in welchem Kapitel zu erwarten hat.

Ökonomische Interessen und die Diskurse der Aufklärung verbanden sich im kurländischen Adel und führten zwangsläufig zum Konflikt mit dem Herzog. Der Wechsel zur russischen Herrschaft bot durchaus Chancen, war aber wiederum geprägt von konfliktträchtigen Aushandlungs-, aber auch von erfolgreichen Anpassungsprozessen. Das, was Mesenhöller das „Obenbleiben“ des kurländischen Adels nennt, war also nicht bloßes Beharren, sondern eine – von memorialer Selbstvergewisserung sinnstiftend gestützte – Dynamik, die den Adel selbst zeitweilig auch von innen her zu zersetzen drohte. Diese Dynamik zeigt einen tatsächlichen Elitenwandel und eine Modernisierung der baltischen Ritterschaft, die das landläufige Urteil der Rückständigkeit korrigieren und den Umbruch in dieser Region in eine Reihe stellen mit vergleichbaren Prozessen des Epochenumbruchs in anderen Teilen Europas. Dass Mesenhöllers Ergebnis überzeugt, liegt dabei vor allem auch daran, dass er in seiner Studie profunde Quellenbeherrschung mit einer souveränen Kenntnis eines breiten Spektrums an Forschungsliteratur verbinden kann und darum seine solide Quellenbasis methodisch und theoretisch durchdringt.

Besonders hervorzuheben ist schließlich auch der umfangreiche Anhangteil, mit dem Mesenhöller seine Studie abrundet. Er umfasst statistisches Material wie eine detaillierte Ehetabelle der kurländischen Ritterschaft oder Besitzstatistiken und anderes Material zur ökonomischen und sozialen Entwicklung, das auch für weitergehende Fragestellungen wertvolles Basismaterial liefert. Der Anhang umfasst aber auch Maß- und Währungstabellen, Karten und eine Zeittafel, die in besonderem Maße nochmals der Anschaulichkeit der Studie dienen. Auch ein Personenregister ist vorhanden, ein Orts- und Sachregister wäre freilich angesichts der Themenstellung durchaus hilfreich gewesen.

Es sollte nicht verschwiegen werden, dass sich Mesenhöllers Buch – nicht zuletzt aufgrund seiner erzählenden Darstellung – kaum auszugsweise rezipieren lässt. Doch die vollständige Lektüre ist lohnend und kann dem Leser uneingeschränkt empfohlen werden. Dabei ist zu hoffen, dass die Studie tatsächlich einen breiten Forscherkreis anspricht und nicht auf Rezipienten mit regionalem Interesse beschränkt bleibt, denn sie stellt zweifellos einen wichtigen Beitrag zur allgemeinen Geschichte der Entwicklung der Moderne dar.

[1] Siehe vor allem: Erwin Oberländer (Hrsg.), Das Herzogtum Kurland 1561–1795. Verfassung, Wirtschaft, Gesellschaft. 2 Bde. (Bd. 1 hrsg. zusammen mit Ilgvars Misāns), Lüneburg 1993 und 2001; ders., Das Herzogtum Kurland 1561–1795, in: Peter-Claus Hartmann (Hrsg.), Regionen in der Frühen Neuzeit (= Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 17), Berlin 1994, S. 193-207; ders., Kurzemes Hercogiste Eiropas Vēstures kontekstā – pētijumi perspektīvas [Das Herzogtum Kurland in der europäischen Geschichte – Perspektiven der Forschung], in: Ventspils Muzeja Raksti (Acta Historica Vindaviensia) 1, Riga 2001, S. 19–26.

[2] Volker Keller, Herzog Friedrich von Kurland (1569–1642): Verfassungs-, Nachfolge- und Neutralitätspolitik, Marburg 2005.

 

Anuschka Tischer

(Forrás: H-Soz-u-Kult)