Krauss, Karl-Peter:

Deutsche Auswanderer in Ungarn.

Ansiedlung in der Herrschaft Bóly im 18. Jahrhundert.

Stuttgart, 2003.

 

 

 

„Nun liebster Schatz wan Du noch lust hast, zu mier zu komen, so kanst Du komen, dan hier ist beser zu leben als in dem schwaben land“ – schrieb am 18. Dezember 1785 der Auswanderer Johann Michael Baldauf an seine Braut in Hörschwag (Schwäbische Alb). Der optimistische, ja geradezu enthusiastische Brief wiederspiegelt einen gelungenen Migrationsprozess, denn der Briefschreiber berichtet u.a. ganz stolz: „kein Schneider Mer von Herschwag sondern ein Baur von Kerbei“ (S. 253). Migrationsdebatten sind aufgrund der aktuellen politischen Entwicklung nicht nur von öffentlichem Interesse, sie werden den bundesdeutschen Alltag auch künftig beschäftigen. Doch die wissenschaftliche Erforschung europäischer Migrationsvorgänge steht erst am Anfang, und selbst innerhalb der vorhandenen Ergebnisse lässt sich ein Schwerpunkt zugunsten der „nassen Auswanderung“ nach Amerika zu Lasten der „trockenen Auswanderung“ nach Ost- und Südosteuropa konstatieren. Hauptzielland der letzteren war das Königreich Ungarn nach der Befreiung von der Osmanenherrschaft.

Der Autor dieses Bandes füllt mit dieser Arbeit in zweifacher Hinsicht eine große Lücke: Erstens betrat er insofern ein weitgehend unerforschtes Gebiet, als die deutschsprachige Wissenschaft infolge der „völkischen Hypothek“ (Mathias Beer) das Interesse an diesem Thema, insbesondere in der universitären Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg verloren hatte. Das Thema wurden „Amateuren“, d.h. interessierten Laien überlassen, die meist im Rahmen der so genannte „Heimatliteratur“ ihre Arbeit entfalten. Zweitens wurden in der ungarischen Historiografie die Deutungsmodelle über die „Wiederbesiedlung des Landes“ im 19. Jahrhundert ausgearbeitet. Demnach erfolgte nach der Zurückdrängung der Türken um 1700 eine intensive Migrationspolitik der Habsburger, um die Freiheitsbestrebungen der „rebellischen (protestantischen) Magyaren“ mithilfe von katholischen Deutschen, also durch die bewusste Veränderung der ethnischen und konfessionellen Landkarte Ungarns, zu schwächen. Dieses Deutungsmuster beherrscht – abgesehen von geringfügigen Nuancen – bis heute nicht nur die Geschichtsschreibung, sondern auch die öffentliche Erinnerungskultur in Ungarn. Zugleich fehlen gründliche Studien auf der Mikroebene, die die erste Grundlage für eine Typologisierung überhaupt für die seriöse Forschung bieten könnten.

Karl-Peter Krauss untersucht die Ansiedlung der Deutschen in Ungarn im 18. Jahrhundert anhand einer Herrschaft der großen ungarischen Adelsfamilie Batthyány in Süd-Transdanubien, im Komitat Baranya. Im Gegensatz zur etablierten ungarischen Geschichtsschreibung steht hier nicht die Siedlungspolitik der Wiener Hofkammer, sondern einer privaten Grundherrschaft im Vordergrund. Allein diese Zielsetzung verdient Anerkennung, denn mit Recht werden in der Arbeit die strukturellen Unterschiede zwischen Kameral- und privater Ansiedlung betont. Zugleich verzichtet der Autor auf den Anspruch, das Migrationsmodell schlechthin entwerfen zu wollen, denn was er kann, ist ein Modell nachzuzeichnen. Zugleich versucht er eine Typologisierung des Ansiedlungsverlaufs in dieser genannten Herrschaft (S. 102), was legitim und innovativ für andere Forschungen ist. Ausgewertet wurden dabei bisher überwiegend unbekannte Archivmaterialien aus Ungarn, Deutschland und Österreich, womit er an die Tradition der Vorkriegszeit anknüpft, als die Arbeitsgemeinschaft in Budapest um Prof. Jakob Bleyer genau die Notwendigkeit solcher überregionalen Ansätze zum Leitfaden der Forschung machte.

Seine Aufgabe meistert Krauss dank einer umfangreichen Quellenauswertung akribisch und überzeugend. Er fokussiert zunächst die internationalen Zusammenhänge, rekapituliert die Grundzüge der Familiengeschichte der Batthyánys, entwirft die Rahmenbedingungen sozioökonomischer Prozesse, die den eigentlichen Hauptgrund für die Migrationspolitik der privaten Grundherrschaften gebildet hatten, und stellt die Frage, inwiefern eine tradierte Werteordnung aus dem Auswanderungsgebiet mitgebracht werden konnten. Diese Fragestellung ist umso spannender, als die vorhandene – und wie bereist geschildert veraltete – Fachliteratur weitgehend von einer Methodik des 19. Jahrhunderts ausgeht, in der derartige Überlegungen nicht erwogen werden. Hierbei aber verknüpft der Autor die aktuellen Forschungsergebnisse westeuropäischer und deutschsprachiger Provenienz, und adaptiert diese auf die ungarischen Gegebenheiten. In diesem Sinne wird im Weiteren nach den „Lebensformen“ der deutschen Siedler in diesem bewusst gewählten Teil der „Schwäbischen Türkei“, d.h. in Süd-Transdanubien gefragt und damit ein neues Bild von Sozialgeschichte entworfen. Die vom Jahresablauf diktierten Lebensformen werden dabei genauso berücksichtigt, wie gemeinschafts- und identitätsstiftenden Komponenten. Konkrete Fallstudien, wie die Vita der Schwestern Magdalena und Walburga Bauer oder die der Margaretha Kirchner in der Herrschaft Bóly bilden jeweils ein Unterkapitel und machen Geschichte lebendig. Schließlich werden die Beziehungen zwischen Herrschaft und Untertanen problematisiert. Der Verfasser entkräftet Klischees mit einer Flut von Archivmaterialien und Argumenten. Die vielfach angenommene und in der Erinnerungskultur der deutschen Minderheit bis heute einen festen Bestandteil bildende „Dorfgemeinschaft“ als egalitäre und sozial homogene Organisationsform in der Ansiedlungszeit stellt er genauso wie das falsche Bild in der ungarischen Historiografie, lediglich die Habenichtse seien ausgewandert und hätten sich zu Lasten der einheimischen Bevölkerung bereichert, in Frage und widerlegt diese. In der Tat waren nämlich die „Ungarnwanderer“ Angehörige der unteren sozialen Schicht, deren Motivationsgrund sozialer Aufstieg war, doch sie waren keineswegs homogen, und Krauss bescheinigt teilweise „extreme Vermögensunterschiede“ (S. 58).

Ein umfangreicher Anhang rundet das Buch ab. Hierzu werden wertvolle Quellen transkribiert zugänglich gemacht. Die zahlreichen – übrigens vom Autor selbst entworfenen – Landkarten, Tabellen sowie Bildmaterialien erleichtern das Verständnis des Geschriebenen und machen das Lesen sehr flüssig. In diesem in Inhalt und Form mit hohen Ansprüchen angefertigten Werk sind lediglich die leicht vermeidbaren, allerdings wenigen Fehler bedauerlich: Die Wiedergabe der ungarischen Ortsnamen ist nicht immer korrekt, so bei „Veszprem, Kistót falu, Vajsló oder Kozármisleny“ (S. 74f.). Es leuchtet auch nicht ein, warum es einmal Fünfkirchen heißt anstatt Pécs, doch zugleich Bóly anstatt Bohl. Warum im frühen 18. Jahrhundert von Österreich und Deutschland oder bei der Familie Batthyány zu dieser Zeit von „burgenländischen Stammesherrschaften“ (S. 10) die Rede sein kann, lässt sich nicht nachvollziehen.

Trotz solcher Kleinigkeiten ist das vorliegende Buch ein Standardwerk mit hohen Maßstäben für die Forschung. Dank der flüssigen Sprache und der guten Strukturierung ist es auch ein hervorragendes Einstiegswerk für Interessierte.

 

Norbert Spannenberger

(Forrás: H-Soz-u-Kult)