Albrecht, Peter – Bödecker, Hans Erich  – Hinrichs, Ernst (Hg.):

Formen der Geselligkeit in Nordwestdeutschland 1750–1820

Max Niemeyer , Tübingen, 2003.

 

 

 

 

Seit langem ist allgemein bekannt, dass sich die Geselligkeit im 18. Jahrhundert in sehr verschiedenen Formen mit ganz unterschiedlichen Vorstellungen und Gewohnheiten ausprägt. Auch die zeitgenössischen Konzepte bilden lediglich Versuche, mithilfe eines theoretischen Integrationsmodells die divergenten Erscheinungen zu fassen. Sie bündeln die Traditionsstränge der Geselligkeit zu einem übergeordneten Leitbild. Bei der Vielfalt der Besonderheiten dürfen auch regionale Differenzen nicht überraschen; sie äußern sich häufig sogar in abweichenden sozietären Modellen, die ihrerseits auf besondere Probleme reagieren. Diesen Ansatz verfolgen auch die Beiträge des Wolfenbütteler Sammelbandes.

 

Territorium – Region – Zentrum

Zunächst einige Fakten: von den zwei Dutzend Aufsätzen behandeln neun im engeren Sinne norddeutsche oder nordwestdeutsche Städte und Regionen. Nämlich Oldenburg, Hamburg, Kiel, Lübeck und die Provinz Brandenburg. Dreizehn andere untersuchen Gießen, Nordhausen, Weimar, Jena, Münster, Düsseldorf, Duderstadt, Göttingen, Berlin, Kassel und Braunschweig. Fünf sind als bereits andernorts gedruckte Beiträge ausgewiesen, der älteste ist vor vierzig Jahren erschienen.

Als Begründung für die Zusammenstellung der Studien erfährt der Leser aus dem Vorwort lediglich, sie habe sich »wie von selbst« ergeben, weil das Programm der Lessing-Akademie seit den achtziger Jahren die Erschließung der Aufklärung in Norddeutschland vorschreibe (S. 3). Eine andere als diese intrinsische Motivation wird nicht gegeben. Nur zur Bandbreite erfolgen Angaben. Ein wesentliches Ziel ist die Bekanntschaft mit den »kleinen und ganz kleinen Gesellschaften«, die »niemals den Charakter einer festen Organisation erreicht haben und erreichen wollten und gleichwohl etwas bewegt haben.« (S. 2) Ein besonderes Augenmerk liegt auf den Formen, die »dezidiert nicht unter dem Einfluß der Aufklärung standen« (S. 3), vorzugsweise also die Kneipengeselligkeit, die Konzerte oder die Handwerkergeselligkeit.

Das ist überzeugend. Gerade die genannten Beispiele können wichtige Ergänzungen liefern zu der nur am bekannten Gegenstand der Gesellschaften orientierten Forschung, wie sie seit den siebziger Jahren vorliegt. Auch den regionalen Aspekt betonen alle Autoren in gebührendem Maße. Allerdings sucht der Leser hier vergebens nach Information. Weder werden die Begriffe »Territorium«, »Region« oder »Zentrum« erläutert, noch wird deutlich, weshalb gerade »Nordwestdeutschland« eine abgrenzbare Region markieren kann. Immer wieder kommen die Autoren auf die speziell deutsche »polyzentrische Struktur« (S. 22) zu sprechen, sie finden regionale »Spezifika« (S. 33) oder greifen zur Bezeichnung »Netzwerk« (S. 40 / 41, 408), wenn sie die kommunikativen Verbindungen beschreiben wollen. Gerade die gelegentlich konstatierten »wechselweisen Besuche« (S. 175) der Mitglieder unterschiedlicher Kreise wären einer eigenen Thematisierung wert gewesen.

Aus den konkreten Handlungen in solchen Sphären der Verflechtung hätte sich vielleicht auch die besondere Gestalt der Topographie Nordwestdeutschlands ergeben können. Dazu wäre wohl eine geographisch engere Auswahl der beobachteten Objekte notwendig gewesen, so fehlen zum Beispiel das Fürstentum Ostfriesland, das Kurfürstentum Hannover oder das Fürstentum Minden vollständig. Insofern ist die Bezeichnung »Nordwestdeutschland« hier nicht aus der Sache begründet, und sie bedeutet eigentlich nicht mehr als die – zumal zweifelhafte – geographische Nähe.

 

Zur Methode

Alle Beiträge sind sozialgeschichtlich und methodisch der älteren Geselligkeitsforschung verpflichtet. Im Mittelpunkt stehen daher Arbeiten zu den literarischen Gesellschaften, zu Freundschaftsbünden und zur Hausgeselligkeit. Einige Autoren gehen jedoch durchaus ungewöhnliche Wege bei der Auswahl des Quellenmaterials. Peter Albrecht etwa untersucht die Gastronomie in Braunschweig, gerät aber methodisch an die Grenzen, wenn er Aussagen über die Gäste allein auf der Grundlage allgemeiner Einsichten in das »Heute wie damals« trifft:

Mit den Worten des Soziologen Gerhard Wurzbacher kann man sagen, dass sich Menschen in der Regel gern an Orten aufhalten, an denen das anwesende Publikum den Charakter einer gleichgestimmten Menge hat. (S. 324)

Solche Vermutungen, auch wenn sie sich auf Thesen aus der Jugendsoziologie der siebziger Jahre stützen, bieten nur eine allgemeine Heuristik beim Verständnis historisch divergenter Verhaltensweisen. Zumal das von Albrecht in wahrhaft umfassender Art beigebrachte statistische Material weitergehende Schlüsse und differenziertere Antworten zulassen würde. Es ist für den gesamten Band kennzeichnend: er ist immer dort interessant, wo die Autoren in die Archive gegangen sind und nun mit unbearbeitetem Material aufwarten können.

 

Milieus und Unterhaltungskulturen

Die erklärte Absicht der Herausgeber, die »kleinen« Geselligkeiten zu berücksichtigen, trägt immer dort Früchte, wo sich in den erwartbaren Quellen, wie etwa der Satzung und den Protokollen der literarischen Gesellschaft in Oldenburg, auch Hinweise über die Behinderungen und Selbstbehinderungen der Geselligkeit finden (S. 18, 46 ff.). Oder in einem Beitrag über die »Aufklärung am Teetisch« von Almut Spalding, der den Frauen des Hauses Reimarus in Hamburg gewidmet ist. Aus den noch nicht aufgearbeiteten handschriftlichen Archivalien lasse sich die Verwandtschaftsstruktur und die daraus resultierende Netzwerkfunktion rekonstruieren (S. 267 f).

Aus einer ganz ungewöhnlichen Quellengruppe, den sogenannten Handwerksaltertümern (S. 415) erwartet Wilfried Reininghaus in Verbindung mit autobiographischen Texten Aufschlüsse über die anders nicht zugängliche Geselligkeit im Handwerk und seine »Gruppenkultur« (S. 419). Leider ist dieses Thema nur als Hinweis aufgenommen, nicht zu einem größeren Beitrag entfaltet. Hans-Heinrich Ebeling behandelt am Beispiel des Schützenfestes Fragen nach der Alltagskultur und ihrer Erschließung durch Festbeschreibungen.

Peter Albrecht arbeitet sich durch den Staub der Amtsarchive und erkundet Wirtshausschilder, Taxlisten oder Adressbücher und öffentliche Anzeigen (S. 295 ff), um Aussagen über die Gastronomie in Braunschweig zu erhalten. Mit seiner Liste der »besonderen Spektakel«, also den Darbietungen und Aufführungen in den Wirtshäusern, eröffnet er einen ungeahnten Einblick in die Festkultur des 18. Jahrhunderts (S. 313 ff).

Selbst ein ganz unscheinbares Beispiel vermag noch Möglichkeiten der Forschung zu zeigen. Hanno Schmitt schreibt über die »Lehrergeselligkeit« und die Schullehrer-Konferenzen in Brandenburg, die nicht nur frühe fachdidaktische Ansätze erkennen lassen, sondern als genuiner Beitrag zum Thema gelten können, weil sie die Verbindung zu den Lesezirkeln nachvollziehbar herstellen (S. 403). Solche Arbeiten weisen in die richtige Richtung. Denn sie sind an der Erforschung von bestimmten Milieus orientiert und beschäftigen sich mit den divergenten Unterhaltungskulturen der Zeit. Lokal oder regional begrenzte Routinen können wichtige Korrekturen liefern für die prozesshafte Kommunikation im abstrakten Raum.

 

Geselligkeit als Handlung

Die regionale und urbane Vielfalt der Geselligkeiten geht seit dem 18. Jahrhundert aus einer beschleunigten Multiplikation von Unterhaltungskulturen hervor. Die neuere Medientheorie und Medienwirkungsforschung betont mit diesem Begriff den engen Zusammenhang von kulturellem Habitus und Unterhaltung. Also der Abhängigkeit der Betätigungen von Milieus und Einstellungen, die Selbstbilder hervorbringen oder das alltägliche Handeln strukturieren, aber auch die Vergemeinschaftung nach innen, die sich in Gruppenidentitäten äußert. Auch der Sammelband ist diesem Phänomen auf der Spur, weil er zeigen soll, wie sich die Individuen verschiedenen Unterhaltungskulturen zuordnen und wie sich diese verschiedenen Handlungsgemeinschaften auseinander entwickeln oder unabhängig voneinander entfalten. Allerdings gelingt dann der Konnex mit dem regionalen Ansatz nicht in überzeugender Weise.

Einerseits könnte man den geringen Neuerungsgrad der kommunikativen Institutionen im 18. Jahrhundert im Blick auf die gesamte Frühe Neuzeit zeigen und würde mediengeschichtlich argumentierend auf ähnliche Netze schon im 17. Jahrhundert stoßen; andrerseits müssten neue Formen des Wissenstransfers herausgearbeitet werden, die eine direkte Folge veränderter Medienlandschaften waren. Als hilfreich könnte sich hier das Instrument der Netzwerkanalyse erweisen, wie es neuerdings die Soziologie und die Geschichtswissenschaft verwenden. Auch die im vorliegenden Band gelegentlich behauptete »Politisierung der Geselligkeit« (S. 393) könnte ja auf eine zunehmende Verflechtung von vorher getrennten Bereichen der Kommunikation hinweisen.

Schließlich könnte die Brauchbarkeit des Differenzierungskonzepts, auf dem die soziologische Milieuforschung gründet, in der Konfrontation mit der Netzwerkforschung überprüft werden. Aber dazu müsste man Fragestellungen bündeln, die hier noch zu sehr auf verschiedene Spezialgebiete verteilt sind.

 

 

Markus Fauser

(Forrás: http://www.iaslonline.de)